SPRECH-Nachrichten, 30. Dezember 2024
Leitartikel: „… noch immer Beistrichredner:in?“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass ich Ihnen wieder etwas aus der Welt des Sprechens berichten kann, schön, dass Sie daran teilhaben, ich freue mich immer, dass meine raren Sprechbriefe so gern gelesen werden, das weiß ich einerseits von den vielen netten Rückmeldungen und andererseits von der zuverlässigen elektronischen Postabteilung, die mir die Statistiken bekanntgibt, und damit warten Sie bestimmt schon, dass dieser Satz hoffentlich bald einmal ein Ende nimmt, aber ich muss Sie enttäuschen, mir fällt bestimmt noch einiges ein, um …
Puhh! Das ist schon zum Lesen ausgesprochen schwierig; obwohl Sie beim Lesen selbst das Tempo und die Pausen bestimmen können. Zuhörer haben diese Möglichkeit nicht. Sie werden von Satzteil zu Satzteil gezogen und wissen nicht, was ist jetzt wichtig? Wo mag dieser Endlossatz hinsteuern? Und es gibt tatsächlich Menschen, die es mühelos schaffen, minutenlang zu reden, ohne einen einzigen Punkt zu machen.
Im Deutschen beginnt die Satzmelodie eines Aussagesatzes unten, hat irgendwo einen, vielleicht zwei hörbare Höhepunkte und geht am Ende, beim Punkt wieder hinunter. Oben bleibt die Stimme nur bei Beistrich oder Fragezeichen. Bleiben Sie am Ende eines Satzes mit der Stimme oben, reihen Sie Ihre Aussage als eine beliebige in eine Menge anderer Aussagen ein oder Sie stellen sie sogar in Frage.
Dieser sogenannte Hochschluss ist eine grassierende Unart und hat eine Menge ungünstige Effekte. Zum einen entsteht statt einer aussagekräftigen Betonung eine langweilige Leierkastenmelodie, die die Botschaften fade und unbedeutend wirken lässt. Die Sätze werden hohl und floskelhaft. Zum anderen hetzt man sich selbst und die anderen, denn nach einem Beistrich muss ja wieder etwas folgen und noch etwas und noch etwas … Sehr oft werden diese Satzteile mit Fülllauten verbunden, und die Ratlosigkeit über das Ende des Satzes bekommt damit einen akustischen Ausdruck.
Wir alle hören gern Rhythmisches und Melodisches. Also entscheiden Sie sich, je nach Situation und Intention, für Posaune, Harfe oder Piano … aber bitte niemals für den Leierkasten! (siehe auch: „Wer ohne Punkt und Komma spricht …“)
Sprech-Übung: „Tiefschuss“
Probieren Sie den Tiefschluss aus – jeder Punkt ist eine Zäsur, die das Ende eines Gedankenganges markiert:
Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ↓ Ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich unserer Einladung gefolgt sind. ↓ Wir haben ein dichtes Programm für Sie vorbereitet und ich bin überzeugt, es wird für alle etwas Interessantes dabei sein. ↓ Gleich zu Beginn stelle ich Ihnen die Tagesordnungspunkte und die jeweiligen Gastrednerinnen und Gastredner vor. ↓ Danach gibt es noch eine kleine Warm-up Runde zu der ich Sie jetzt schon herzlich einlade. ↓
Und nun probieren Sie es mit einer spontanen Präsentation, einer Rede, einem Toast, o.ä.!
Wenn es Ihnen nicht gelingt, versuchen Sie sich einen privaten Kontext mit solchen Hochschlüssen vorzustellen. Sie treffen auf der Straße einen Bekannten und sagen:
Grüß Dich Kurt ↑ wie schön, dass ich dich hier treffe ↑ ich hab schon lange nichts von Euch gehört ↑ Wir waren die letzten zwei Wochen in der Steiermark und sind gestern wieder zurückgekommen ↑ ich muss Dir unbedingt erzählen, wen ich getroffen habe ↑
Das klingt sehr eigenartig, oder? Kurt wird sich möglicherweise fragen, ob es Ihnen auch wirklich gut geht. :-)
Interessantes und Neues
Wer in langen Sätzen spricht, ist zu häufigen Sprechpausen verpflichtet:
Lesestipp
„Stufen“ (Gedicht von Hermann Hesse)
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!