SPRECH-Nachrichten, 12. April 2021

Leitartikel: „Von der Lust am Sprechen“

Keine Frage: vor anderen zu reden ist herausfordernd. Noch anstrengender ist es in Online-Meetings. Die anderen sind nicht da, sie sind nur in einem kleinen Bildschirm abgebildet. Wir selbst sind durch die ganze (meist private) Umgebung dieses Bildschirmes abgelenkt. Das Engagement in den Sprechakt, die Präsenz zu halten, ja die ganze Interaktion wird viel schwieriger ohne persönlich anwesende Gesprächspartner.

Und überdies berichten mir Klienten immer wieder, beim Reden in virtuellen Besprechungen viel nervöser zu sein als sonst. Warum kann das sein? Müssten wir uns zuhause nicht sicherer fühlen als im Büro?

Nervosität beim Sprechen hat selten etwas mit fehlender Sicherheit im räumlichen Sinne zu tun. Es erwarten uns weder hier noch dort Angreifer die plötzlich aus einem Versteck springen könnten. Es sind eher Ängste vor Versagen und/oder vor Zuwendungsentzug die hier Pate stehen. Wenn wir sprechen, fühlen wir uns einer permanenten Beurteilung unterzogen. … Und die gnadenlosesten Kritiker sind wir selbst. In der Videokonferenz kommt dies ganz besonders zum Tragen, denn sich "nur" selbst reden zu hören, lenkt zuviel Aufmerksamkeit auf sich selbst. Noch mehr als im direkten Kontakt mit anderen scheinen wir uns hier kritisch zu bespiegeln.

Einer meiner Lehrer hat einmal vermutet, dass wir uns selbst nicht ertragen könnten (und deshalb z. B. wenig Sprechpausen machen um die Stille zu überbrücken).

Ich lade Sie ein, sich selbst ganz bewusst und genüsslich zu ertragen. Sich selbst einmal wirklich gern und aufmerksam zuzuhören. Ich finde, es ist an der Zeit, sich selbst so richtig zu feiern! – Tut es nicht not, mehr Freude an sich selbst und der eigenen Ausdrucksfähigkeit zu entwickeln. Ihre Ideen, Ihr Innenleben ist einzigartig! Ihre Sprache sollte diese Schönheit wiedergeben – in ihrer ganzen vielschichtigen Opulenz. Probieren Sie es aus! Üben Sie reden!!! Erzählen Sie sich Begebenheiten! Fabulieren Sie, schwärmen Sie, polemisieren und schwadronieren Sie! Wenn Sie die erste Peinlichkeit sich selbst gegenüber überstanden haben, haben Sie einen unendlich wichtigen Trainingsschritt getan.

Dies ist mitnichten eine Rosarote-Wolken-Kuscheltherapie; das ist eine notwendige Phase in jeder rhetorischen Ausbildung. Ein wesentlicher Teil des Überzeugungsvermögens ist das Wohlwollen. Natürlich zunächst das Wohlwollen, das ein Redner, eine Rednerin dem Publikum oder den Gesprächspartnern entgegenbringen kann. Wenn wir uns von jemandem gemocht oder angenommen fühlen, sind wir eher willens, ihm zuzuhören und ihm zu glauben. Aber ich höre auch, ob eine sprechende Person sich selbst mag (und nicht ständig mit sich hadert oder hart mit sich ins Gericht geht) – ob er/sie also auch sich selbst ausreichend Wohlwollen entgegenbringt. Und das können Sie üben. Laut. Und am besten mit einer richtigen … Lust am Sprechen!

Sprechtrainerin Petra Maria Berger: "Darüber freuen wir uns." (Foto: www.weinfranz.at)

© 2021 Petra Maria Berger | Franz-Emerich-Gasse 6/4, 1120 Wien, Österreich | Impressum | Datenschutz | Webdesign

Briefkopf